„Komm mal her! Guck raus, das musst du gesehen haben!“ Und tatsächlich, das muss man mit eigenen Augen gesehen haben: Es sind wirklich blaue Stellen am Himmel zu sehen.
Da schlägt das Herz gleich höher, bei dem Ausblick wollen wir keine Sekunde länger hier bleiben. In Rekordzeit ist das Frühstück gegessen, sind die Klamotten gepackt und sitzen die Rucksäcke auf unseren Hüften und Schultern. Mit einem letzten Blick zurück verabschieden wir uns vom Adventdalen.
Auf den nächsten Kilometern im Helvatiadalen machen sich erstmals die Knochen und Muskeln bemerkbar. Nach der vom Wetter verordneten Ruhepause haben sie sich wohl etwas voreilig ans Nichtstun gewöhnt. Noch dazu geht es permanent den „Berg“ hinauf, wir kommen nur langsam voran und die Strecke zieht sich etwas. Einmal mehr lernen wir, dass auf Spitzbergen alles viel näher aussieht als es ist. Elveneset wollen wir in den nächsten Tagen erreichen – sehen können wir es aber schon wenige Kilometer nach unserem Aufbruch. Die Luft ist einfach viel zu klar, um vernünftig Entfernungen abschätzen zu können. Frust über das scheinbar nahe Ziel lassen wir gar nicht erst aufkommen, schließlich gibt es auch schöne Dinge zu sehen, die wirklich nah sind.
Auch wenn die Berge sich irgendwann doch alle recht ähnlich sehen und man die Tundra in allen erdenklichen Grün- und Braunfärbungen gesehen zu haben glaubt, gibt es auf Spitzbergen immer wieder Überraschungen zu entdecken. So wussten wir zwar, dass die Rentiere ihr Geweih im Herbst abwerfen (die Männchen jedenfalls, die Weibchen tun’s wohl erst im Frühjahr), aber gesehen haben wir nichts dergleichen. Und das, wo der Herbst doch gar nicht mehr so weit weg ist.
Plötzlich, hinter einer Kuppe, entdecken wir zwei Rentiere. Erst sehen die beiden ganz gewöhnlich aus, doch mit jedem Schritt den wir näher kommen wird klarer, dass ganz offensichtlich bald Herbst ist: Grellrot zeigen die blutigen Enden eines der Geweihe gen Himmel. Als hätte das Viech vor ein paar Minuten einen Kontrahenten aufgespießt – und, als wollten sie dieses Bild nur noch unterstreichen, dessen Überreste baumeln noch am Knochengeäst. Ob es nun der überschäumenden Fantasie zuzuschreiben ist oder nicht: Gruselig sieht es schon aus, wenn die Rentiere kurz davor sind ihr Geweih abzuwerfen. Denn das Geweih ist mit einer feinen Haut bewachsen – und bevor das Ren seinen Stirnschmuck abwerfen kann, muss die Haut ab…
Elveneset, gleich sind wir da!
Es hätte wohl niemand gedacht, aber das Spitzenwetter bleibt uns tatsächlich für längere Zeit treu. Das Zelt und die über Nacht draußen liegenden Rucksäcke werden zwar jede Nacht vom Tau feucht, doch das hat die Sonne im Griff: Bis wir los kommen, ist in der Regel schon wieder alles trocken.
Den Pass Kreklingpasset haben wir hinter uns gelassen, wandern nun durchs nächste Tal: De Geerdalen. Alles, was wir seit Innerhytta an Höhe gewonnen haben, geht es nun wieder hinunter. Unser Weg führt uns über zahlreiche Kuppen, durch ebenso viele Einschnitte und vorbei an unzähligen Schmelzwasserbächlein, die sich zu einem gemeinsamen Strom vereint das Tal entlang in Richtung Sassenfjord schlängeln. Als das Rauschen langsam lauter wird wissen wir, dass unser Ziel nicht mehr fern ist: Etwa anderthalb Kilometer vor der Küste stürzt das Schmelzwasser in mehreren Stufen über eine doch recht imposante Distanz in die Tiefe. Direkt an diesem Wasserfall soll unser nächstes Lager sein.
Beim Anblick der tief orange erleuchteten Berghänge bauen wir das Zelt auf und richten den Lagerplatz ein. Weil wir von den paar Kilometern das Tal hinunter noch nicht müde genug zum Kochen und Schlafen sind und die Landschaft einfach zu laut nach uns ruft, gehen wir auf eine kleine Erkundungs-Tour oberhalb des Wasserfalls. Die Berge sind in ein traumhaftes Licht getaucht, der Blick über den Fjord ist ungetrübt – und an einer steilen Abbruchkante machen wir eine ganz besondere Entdeckung: Auf einer Felssäule sitzen Papageientaucher, die uns neugierig beäugen. Lust auf den Süden haben sie wohl noch nicht – das kann ich bei dem Wetter und der Aussicht aber sehr gut verstehen!
Hungrig (Ob’s wohl an den Extra-Kilometern oder dem Anblick des „Geflügels“ lag? Man weiß es nicht…) machen wir uns auf den Rückweg zum Zelt. Natürlich nicht, ohne unsere Flaschen mit frischen Wasser aufzufüllen.
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